Nicht der Kindergeldbezug ist das Problem
Amaro Foro zur Mediendebatte über den Kindergeldbezug von EUBürger*innen
Seit 2011 finden in den deutschen Medien und der Politik nahezu regelmäßig Debatten über den Kindergeldbezug von EU-Bürger*innen und einen angeblichen Missbrauch statt. Amaro Foro beobachtet in der Beratungspraxis und der Antirassismusarbeit jedoch stattdessen vor allem eine immer massivere institutionelle Diskriminierung von EU-Bürger*innen – nicht nur, aber auch beim Kindergeldbezug und trotz des geltenden Gleichstellungsgebots.
Obwohl eine Dienstanweisung des Bundeszentralamts für Steuern festlegt, dass im Fall von hier arbeitenden Unionsbürger*innen die Familienkasse grundsätzlich von der Freizügigkeitsberechtigung ausgehen soll, sofern nicht konkrete Umstände auf etwas anderes hindeuten, wird die Gesetzgebung ebenso wie deren Umsetzung in den zuständigen Behörden seit Jahren verschärft. Hier wäre insbesondere die Gesetzesverschärfung von 2014 zu nennen, die zu einer strikteren Prüfung der Kindergeldanträge dieser Personengruppe geführt hat – obwohl es ein Diskriminierungsverbot gegenüber EU-Bürger*innen gibt.
Amaro Foro beobachtet eine deutlich längere und unverhältnismäßige Bearbeitungszeit (bis zu zwei Jahre im Gegensatz zu maximal 6 Wochen bei Anträgen ohne „Auslandsbezug“) sowie die Nichteinhaltung von EU-Vorschriften und eine Zunahme von Maßnahmen, die nur noch als Schikane bezeichnet werden können. So werden etwa immer wieder von den
Antragsteller*innen Dokumente aus dem Herkunftsland verlangt, obwohl die Behörden der EU-Länder zum Austausch solcher Informationen über Amtswege verpflichtet sind. Häufig werden außerdem – trotz ausreichender Belege für einen Lebensmittelpunkt in Deutschland – gezielt irrelevante Unterlagen angefordert, etwa Impfpässe der Kinder oder Nachweise über gekaufte Arbeitsmittel für die in Deutschland ausgeübte Tätigkeit. Da häufig plötzlich alles reibungslos funktioniert, sobald sich erfahrene Sozialberater*innen einschalten, ist in vielen Fällen von gezielter Schikane auszugehen. Die Anträge werden außerdem inzwischen in extra geschaffenen Stellen der Familienkasse bearbeitet, die personell unterbesetzt sind. Das führt zu weiteren unnötigen Verzögerungen und erschwerter Kontaktaufnahme.
All diese Entwicklungen deuten darauf hin, dass bei Antragsteller*innen aus anderen EU-Ländern, insbesondere aus Rumänien und Bulgarien, inzwischen pauschal von unterstelltem Sozialbetrug ausgegangen wird. Die Leidtragenden sind dabei die Antragsteller*innen, von denen immer noch viele in Deutschland unter prekären Bedingungen arbeiten. Der Zugang zum Kindergeld wird ihnen unnötig erschwert und teils sogar verweigert.
Gleichzeitig muss betont werden, dass die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten aus Rumänien und Bulgarien (die also in deutsche Sozialversicherungssysteme einzahlen) seit der vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit (2014) kontinuierlich ansteigt: Im Mai 2018 etwa waren 17,6 Prozent mehr Menschen aus Bulgarien und 19,7 Prozent mehr rumänische Staatsbürger*innen in Deutschland als reguläre Arbeitnehmer*innen tätig als im selben Monat des Vorjahrs (Zahlen der Bundesagentur für Arbeit vom Juli 2018).
Familienleistungen, die von der Beschäftigung abhängen, werden in der EU nach dem Beschäftigungslandprinzip gezahlt – denn dort werden auch die Steuern gezahlt. Alles andere wäre unlogisch, und deshalb hat auch die EUKommission Forderungen nach einer anderen Regelung stets eine Absage erteilt. Die aktuelle mediale und politische Debatte ist nur vor dem Hintergrund tradierter antiziganistischer und rassistischer Stereotype zu erklären (etwa eines angeblichen besonderen Kinderreichtums oder eines unterstellten parasitären Verhaltens). Es erfüllt uns mit Sorge, dass in diesen Debatten seit über 7 Jahren keinerlei Erkenntnisgewinn zu beobachten ist.
Angesichts der beschriebenen und von Amaro Foro dokumentierten massiven Diskriminierungen von EU-Bürger*innen beim Leistungsbezug fordern wir stattdessen eine gründliche und unabhängige Prüfung der Praxis der Familienkasse und zwar im Hinblick auf das EU-Gleichstellungsgebot und das Verbot von Diskriminierung. Da unter dieser Praxis viele in Deutschland hart arbeitende Menschen seit Jahren leiden, wäre das sinnvoller, als alle 6 Monate wieder dieselbe rassistische und wirklichkeitsfremde Debatte zu führen. Eine ausführliche Einschätzung der Sozialberater*innen von Amaro Foro, inklusive Verweisen auf die entsprechenden Gesetzestexte und Dienstanweisungen, finden Sie auf den folgenden Seiten.
Detaillierte Einschätzung zum Kindergeldbezug bulgarischer und rumänischer Unionsbürger*innen von den Sozialberater*innen von Amaro Foro e.V.
Angesichts der wiederkehrenden politischen und medialen Debatte über den missbräuchlichen Bezug von Kindergeldleistungen von zugewanderten
Menschen unter anderem aus Rumänien und Bulgarien möchten wir wie folgt Stellung nehmen: Der Zuwanderungsprozess von EU-Bürger*innen aus den zwei Ländern wird seit vielen Jahren durch explizit oder verdeckt antiziganistische mediale Berichterstattung, restriktive gesetzliche Maßnahmen und diskriminierende institutionelle Praktiken, die auf antiziganistischen Stereotypen und Unterstellungen basieren, gekennzeichnet.
Zu den einschränkenden Regelungen, die nach der Einführung der vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit für Menschen aus diesen Ländern (2014) verabschiedet wurden gehört unter anderem die verschärfte Prüfung der Kindergeldansprüche [1], die in absolutem Widerspruch zu dem Gleichbehandlungsgrundsatz bzw. Diskriminierungsverbot von Unionsbürger*innen [2]
steht. Gemäß der Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz (DA-KG) sollte die Familienkasse bei Kindergeldanträgen „grundsätzlich (…) bei Staatsangehörigen der EU- bzw. EWR-Staaten und der Schweiz von der Freizügigkeitsberechtigung ausgehen“. [3] Eine gesonderte und detailliertere Prüfung sollte den Anweisungen nach nur im
Einzelfall erfolgen und dann, wenn der Familienkasse „konkrete Umstände“ bekannt sind, aufgrund derer Zweifel an der Freizügigkeitsberechtigung bestehen. Die Erfahrungen von bulgarischen und rumänischen in Deutschland erwerbstätigen Eltern beim Kontakt mit der Familienkasse deuten auf eine strukturelle Benachteiligung hin. Diese diskriminierenden Realitäten werden in den politischen Diskursen und medialen Berichterstattungen außer Acht gelassen.
Die pauschale gesonderte und detaillierte Prüfung die seit ca. 7 Jahren von Berliner Sozialberatungsstellen bemängelt wird und im Rahmen des Projektes „Dokumentation antiziganistisch motivierter Vorfälle“ seit 2014 systematisch erfasst wird, konkretisiert sich wie folgt:
- unverhältnismäßig lange Bearbeitungszeiten der Kindergeldanträge, die sich im Durchschnitt über 1,5 Jahre erstrecken, während die Bearbeitungszeiten für Inländer sich auf 4 bis 6 Wochen belaufen.
- fehlerhafte Umsetzung der Verordnung 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und der Verordnung 987/2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit durch die Anforderung des europäischen Formulars E 411 bezüglich der Vorbezugszeiten von kindergeldähnlichen Leistungen direkt von den Antragstellern, oder von Nachweisen über die Einstellung ausländischer Familienleistungen, trotz der Pflicht des elektronischen Informationsaustausches über Amtswege zwischen den zuständigen Trägern der zwei EU-Mitgliedsstaaten.
- Bearbeitung der Anträge „mit Auslandsberührung“ in extra geschaffenen Stellen, etwa in Nürnberg, die personell nicht ausreichend ausgestattet sind, was zu einer unnötigen zusätzlichen Verzögerung der Antragsbearbeitung sowie zu einer erschwerten Kontaktaufnahme führt.
- Gezielte Anforderung von nicht relevanten Unterlagen wie z.B.: Nachweis über den Umfang der Steuerpflicht in Deutschland, Nachweis über die Kranken- und Rentenversicherung in Deutschland, Nachweis über das letzte Arbeitsverhältnis im Ausland mit deutscher Übersetzung, Kopie des ärztlichen Untersuchungsheftes für Kinder, Impfpässe der Kinder, Kitabescheinigungen, Kopie des Gewerbescheins und Nachweis über die gekauften Arbeitsmittel für die Selbstständigkeit, weitere Nachweise über die Gewinnerzielungsabsicht, trotz ausreichender Indizien für die Verlagerung des Lebensmittelpunktes nach Deutschland wie: Meldebescheinigungen, Identitätsnachweise (bei Kindern beglaubigte Übersetzungen der Geburtsurkunden und Kopien der Pässe) oder Schulbescheinigung für die schulpflichtigen Kinder.
Somit wird insgesamt der Zugang zu Kindergeld für bulgarische und rumänische Staatsbürger*innen erheblich erschwert oder sogar komplett verweigert. Diese Entwicklungen deuten darauf hin, dass bei der Bearbeitung von Anträgen auf Kindergeld von rumänischen und bulgarischen Staatsbürger*innen die Familienkasse von einer kollektiven Unterstellung von Sozialbetrug ausgeht. Wir fordern daher eine unabhängige Prüfung der Praxis der Familienkasse im Zusammenhang mit Leistungsansprüchen von Unionsbürger*innen aus Rumänien und Bulgarien sowie eine objektive Darstellung der Fakten seitens der Politik und Medien. Dabei sollte zunächst erwähnt werden, unter welchen Bedingungen ein Kindergeldanspruch in Deutschland für Unionsbürger*innen, deren Kinder im Ausland leben besteht. In solchen Fällen greift das Beschäftigungslandprinzip: Das Land, in dem man beschäftigt ist, ist vorrangig für Familienleistungen zuständig, weil man dort und nicht im Herkunftsland Steuern zahlt. Die Zahl der in Deutschland sozialversicherungspflichtig Beschäftigten bulgarischer und rumänischer
Staatsbürger*innen hat 2018 um 17,6 bzw. 19,7 Prozent im Vorjahresvergleich zugenommen. Laut dem Zuwanderungsmonitor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung vom Juli 2018 sind durch diese positive Beschäftigungsentwicklung die Arbeitslosen- und die Hilfequote dieser Gruppe gesunken, die ohnehin schon unter dem Durchschnitt der ausländischen Bevölkerung in Deutschland lagen. [4] Die parteiübergreifenden populistischen Forderungen zur Anpassung bzw. Senkung des Kindergeldes auf das Niveau des Herkunftslandes sind daher nicht nur rechtswidrig, sondern auch unlogisch, und wurden aus diesem Grund von der EU-Kommission bereits zurückgewiesen. [5]
Quellen:
[1] Vgl. Bundesministerium des Innern, Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2014): Abschlussbericht des Staatssekretärsausschuss zu „Rechtsfragen und Herausforderungen bei der Inanspruchnahme der sozialen Sicherungssysteme durch Angehörige der EU-Mitgliedstaaten“, abrufbar hier: (Stand:
10.08.2018).
[2] Vgl. Art. 18 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union.
[3] Bundeszentralamt für Steuern (2018): Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommenssteuergesetz, abrufbar hier: S. 31, (Stand: 10.08.2018).
[4] Vgl. Zuwanderungsmonitor des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Juli 2018 (aktualisiert am 13.08.2018), abrufbar hier:, S. 4 (Stand: 14.08.2018).
[5] Vgl. „Zahlungen ins Ausland: EU-Kommission lehnt Neuregelung von Kindergeld ab“, Spiegel online vom 10.8.2018, abrufbar hier:(Stand:10.08.2018)