Journalismus als Instrument für sozialen Wandel

Ein Interview mit Lela Savić.

Was hat Dich zum Journalismus geführt?

Schon als ich jung war, wollte ich Journalistin werden. Ich wollte über Ungerechtigkeiten berichten und ändern, wie Roma wahrgenommen werden. Ohne Vorbilder fiel es mir jedoch schwer, mich als gebildete Roma zu sehen, geschweige denn als professionelle Journalistin. Ich bin die erste in meiner Familie, die studiert hat. Ich absolvierte einen 2-fach-Bachelor in Psychologie und Kommunikation. Während meines Kommunikationsstudiums schrieb ich einen Aufsatz über die Darstellung von Roma in den Medien. Als ich meinem Professor davon erzählte, machte er mich auf die europäische Kampagne „I Am a Roma Woman“ aufmerksam, die gebildete Roma-Frauen in den Mittelpunkt stellte. Diese Kampagne löste etwas in mir aus und machte mich stolz. Ich wurde selbstbewusster, Inhalte zu produzieren, aber es war schwer einen Einstieg in den Journalismus zu finden.

Nach meinem Abschluss 2011 lernte ich eine Frau kennen, die bei Al Jazeera arbeitete – mein Traumarbeitsplatz damals im College. Sie schlug mir vor, es beim Radio zu versuchen. Ich begann ein sechsmonatiges Praktikum, bei dem ich meine eigene Sendung moderierte. Durch diese Erfahrung verliebte ich mich in den Journalismus, aber es war schwierig, ohne Kontakte in diesem Bereich Fuß zu fassen. 2016, nach der Geburt meiner Tochter, beschloss ich, meine Träume voll und ganz zu verfolgen, um ihr ein Vorbild zu sein. Ich ging zurück an die Universität und belegte Abendkurse für ein Zertifikat in Journalismus. Meine Karriere begann, Gestalt anzunehmen. Ich arbeitete bei Journal Métro, Radio-Canada und La Presse, bevor ich schließlich La Converse gründete.

Warum entschiedst Du Dich, La Converse zu gründen?

Bei meiner Arbeit in den Mainstream-Medien sah ich ein Problem: der Fokus auf Klicks und schnelllebige Inhalte. Das ist für mich nicht das, worum es im Journalismus gehen sollte. Außerdem begegnete mir systemischer Rassismus, sogar in Kanada. Viele meiner Kommilitonen, vor allem People of Color hatten es schwer, einen Job zu finden, während sich einige meiner 19-jährigen weißen Klassenkameraden bereits Stellen beim staatlichen Rundfunk sicherten. Wenn People of Color eingestellt werden, werden sie oft nur als Token benutzt. Auf internationalen Konferenzen lernte ich Roma-Kollegen aus der Ukraine, Bulgarien, Serbien oder Bosnien kennen, und die meisten von ihnen schrieben zu Themen wie Essen und Kultur. Essen ist zwar ein wichtiges Thema, aber nicht das, was ich unter Journalismus verstehe. Bei echtem Journalismus geht es darum, Macht in Frage zu stellen, Institutionen zur Rechenschaft zu ziehen und denjenigen Stimmen Gehör zu verschaffen, denen Ungerechtigkeit widerfährt. Die Chance, über Menschenrechtsfragen zu berichten oder Auszeichnungen zu erhalten, bekamen oft weiße Reporter.

Journalisten aus Roma- und anderen marginalisierten Communitys bekommen das Vertrauen, die Glaubwürdigkeit und die Ressourcen nicht, die sie für ihren Erfolg benötigen. Obwohl sie viel besser geeignet sind, diese Geschichten zu erzählen: Sie können in ihren Communitys leichter Vertrauen aufbauen, sie erhalten bessere Tipps, decken tiefgründigere Geschichten auf und verstehen Nuancen, die Außenstehenden möglicherweise entgehen. Deshalb habe ich La Converse gegründet – um eine Plattform zu schaffen, die Journalisten aus marginalisierten Communitys ermächtigt und, was noch wichtiger ist, um sicherzustellen, dass die Stimmen dieser Communitys gehört werden. Wir wollen Geschichten von innen heraus erzählen; nicht nur über Communitys, sondern mit ihnen. Wir stellen ihre Bedürfnisse und Anliegen in den Vordergrund. Und weil wir ihnen den Raum, die Unterstützung und die Werkzeuge, die sie brauchen, geben, können wir bei La Converse authentische Geschichten teilen und ein besseres Verständnis für die Herausforderungen und die Stärke dieser Communitys schaffen.

Gab es Herausforderungen als Du mit La Converse begonnen hast?

Als ich La Converse ins Leben rief, wurde mir schnell klar, dass der vorhandene Pool an Reportern nicht meiner Vision entsprach. Ich fand nicht die Art von Journalisten, die die Communitys, für die wir schreiben wollten, wirklich verstanden. Also beschloss ich, sie zu erschaffen. So wurde die École Converse geboren – eine Journalismus-Initiative, die sich an Jugendliche aus marginalisierten Communitys richtet. Ziel ist es, Menschen auszubilden, die zwar tiefgehendes Wissen zur Community haben, denen aber die journalistischen Fachkenntnisse fehlen. Wir bezahlen sie, sorgen für Verpflegung und begleiten sie durch den Prozess. Danach veröffentlichen wir ihre Arbeit.

Alle unsere Reporter kommen aus diesen Communitys, weil sie Einblicke und Verbindungen mitbringen, die andere einfach nicht nachbilden können. Absolventen traditioneller Journalismus-Schulen sind nicht immer die beste Wahl. Um die richtigen Menschen zu erreichen, ist es aber notwendig, auf sie zuzugehen, sie finanziell zu unterstützen und ihnen zu zeigen, dass Journalismus keine traumatische Erfahrung sein muss – sondern empowernd und positiv sein kann. Wir gehen auch auf neue Medienformate ein, die unsere Reporter nutzen wollen. Viele junge Menschen finden Podcasts spannend, also bringen wir ihnen bei, wie man Podcasts auf journalistische, traumainformierte Weise produziert. Wir verbinden sogar Journalismus mit Rap. Mit „journalistischem Rap“ wollen wir auf unterhaltsame und fesselnde Art, Geschichten erzählen. So bilden wir nicht nur Reporter aus; wir schaffen eine neue Generation von Geschichtenerzählern, die ihre Communitys authentisch repräsentieren können.

Wie prägt Deine Identität Deine Perspektive auf Journalismus?

Als Romni war meine Beziehung zum Journalismus oft mit Verletzung und Falschdarstellung verbunden. Das hat in mir ein tiefes Gefühl von Verantwortung hervorgerufen, den meiner Community zugefügten Schaden rückgängig zu machen. Meine Identität verpflichtet mich eigentlich dazu, Journalismus als ein Instrument für sozialen Wandel zu verstehen, mit dem Ziel eine inklusive und gerechtere Medienlandschaft zu schaffen. Hinter dem Mikrofon zu stehen bedeutet, dass ich mich für eine korrekte Darstellung der Lebensrealitäten marginalisierter Gruppen und für Gerechtigkeit unermüdlich einsetzen muss.

Diese Perspektive prägt nicht nur die Geschichten, die ich erzähle. Sie prägt auch die Art und Weise, wie ich mich mit den Communitys, für die ich schreibe, auseinandersetze und wie ich Vertrauen aufbaue und zusammenarbeite. Derzeit gibt es in den Medien einen deutlichen Trend hin zu einem traumainformierten Journalismus. Viele Roma, Schwarze, Indigene, Araber und andere marginalisierte Gemeinschaften verstehen diese Praxis bereits, weil wir dessen Auswirkungen aus erster Hand miterleben. Wie ich Journalismus betreibe, ist also stark von meiner Kultur beeinflusst. Ich rate meinen Mitarbeitern zum Beispiel, nicht sofort das Mikrofon herauszuholen, wenn sie jemanden zu Hause interviewen. Stattdessen nehmen wir uns die Zeit dafür, zuzuhören, zu erklären, wer wir sind, und Vertrauen aufzubauen. Dieser Ansatz spiegelt unsere Roma-Traditionen wider.

Selbst als Roma-Journalistin, die die Kultur versteht und die Sprache spricht, ist mir bewusst, dass manche Menschen mir misstrauen könnten, nur weil ich Journalistin bin. Das gilt für Nicht-Roma, die Roma interviewen, umso mehr. Unsere Beziehung zu den Medien ist oft mit Leid verbunden, und ich bin mir dessen sehr bewusst. Und das nicht nur für meine Community, sondern auch für andere entrechtete Gruppen, die von den Medien falsch dargestellt werden. Es ist mir besonders wichtig, den Kontakt zu den Menschen zu pflegen. Ich gehe noch spät nachts ans Telefon und ich wünsche zu Feiertagen alles Gute. Vor allem nehme ich mir Zeit dafür, meine Absichten zu erklären und respektvoll nachzubereiten. Wenn jemand trauert, verstehe ich, dass es unangemessen ist, sofort zu fragen, wie es ihm geht. Stattdessen frage ich: „Was kann ich für Sie tun?“ Falls sie Hilfe benötigen, werden sie es mich wissen lassen. Für mich sollte Journalismus ein Dienst an den Menschen sein. Wenn wir zu diesem Ziel zurückkehren, können wir unsere Arbeit und unseren Umgang mit anderen grundlegend ändern.

Über welche Themen berichtet Ihr?

Unsere Berichterstattung umfasst soziale Themen, die Migranten, Jugendliche in verarmten Stadtvierteln, People of Color und anderen traditionell marginalisierten Gruppen betreffen. Wann immer möglich, schreibe ich auch über Belange von Roma. Letztes Jahr ertrank beispielsweise auf tragische Weise die Familie Lordache, eine Roma-Familie aus Rumänien, an der Grenze zwischen den USA und Kanada, als sie versuchte, ihrer Abschiebung zu entgehen. Angehörige der Roma-Community meldeten sich und baten um Hilfe bei der Überführung der Leichname und wollten auf den romafeindlichen Rassismus in Rumänien aufmerksam machen. Wir berichteten über ihre Geschichte, was zu den Rückführungsbemühungen beitrug. Wichtig zu sagen ist, dass ein Großteil der Medienberichterstattung über die Familie voreingenommen war und den rassifizierten Kontext ihrer Situation außer Acht ließ. Meine Berichterstattung bot also nicht nur einen Bezugspunkt für andere Journalisten, sondern half dabei, über die Herausforderungen aufzuklären, mit denen Roma-Familien konfrontiert sind. Mit diesen Erzählungen wollen wir für mehr Verständnis sorgen und uns für Gerechtigkeit in der Medienlandschaft einsetzen.

Hast du Empfehlungen oder sogar Forderungen an deine Kollegen?

Stellen Sie Roma-Journalisten ein und vertrauen Sie ihnen! Anstatt ihr Wissen einfach zu nutzen und es mit weißen Leuten zu teilen; davon profitiert die Community finanziell nicht. Wenn es jetzt nicht möglich ist, dann stellen Sie sicher, dass es in ein paar Jahren mehr Roma-Journalisten geben wird. Bringen Sie die nötigen Mittel dafür auf. Ich mache es, obwohl ich, ehrlich gesagt, keine große Finanzierung habe. Es gibt keine Ausreden für die Mainstream-Medien, wie es gäbe keine Reporter, die Roma sind. Schließlich sind wir eine der größten Minderheiten in Deutschland, oder nicht? Im Grunde genommen in ganz Europa. Aber reduziert sie nicht darauf, Roma zu sein. Wir sind Fachkräfte.

Berichten Sie über uns aus dem Blickwinkel der Menschrechte. Wir erleben tagtäglich so viele Menschenrechtsverletzungen, und niemand berichtet darüber. Hier in Kanada beschäftigen sich meine Kollegen mit dem Zugang zu Wasser für indigene Communitys, hoffentlich wird das etwas ändern. Warum spricht in Europa niemand über den Zugang zu Wasser für Roma-Communitys? Ich würde es machen, wenn ich in Europa wäre. Wie viele Leute haben über die Romni in Serbien geschrieben, die ihr Kind verloren hat, weil ein Arzt ihr auf den Bauch gesprungen war? (https://romea.cz/en/world/serbia-romani-mother-says-obstetrician-broke-one-of-her-ribs-racially-insulted-and-threatened-her-during-labor-causing-her-baby-to-die)  Wo bleibt die große Recherche dazu?

Es gibt so viel Reichtum in unserer Community. Wenn man sich auf einen Stereotyp reduziert, wird man keine gute Geschichte produzieren. Seien Sie sich Ihrer Vorurteile bewusst. Ich glaube, dass Rassismus ein soziales Konstrukt ist, das man genauso wie Sexismus erlernt. Die meisten Menschen reproduzieren es unbewusst, weil es ihnen eingetrichtert wurde. Seien Sie sich also der Narrative bewusst. Was ist das Narrativ über Roma, das Sie teilen, wenn Sie eine Geschichte schreiben? Wer profitiert davon? Wenn Sie nicht wissen, wer von einer Geschichte profitiert, schreiben Sie sie nicht. Ich denke, die gleiche Logik sollte auch auf die Forschung angewandt werden: Wie werden die Menschen am unteren Ende der Leiter davon profitieren?

Was sollte ein guter Journalist immer im Hinterkopf behalten?

Ein guter Journalist sollte sich stets vor Augen halten, wie wichtig es ist, sich selbst zu reflektieren und die eigenen Beweggründe und Handlungen zu hinterfragen. Eine Wissenschaftlerin hat mir einmal gesagt: Die Karriere eines Forschers endet dann, wenn er aufhört, sich selbst zu hinterfragen. Ich denke, das gilt genauso für den Journalismus. Wenn Sie aufhören, sich kritisch mit Ihrer Arbeit auseinanderzusetzen, ist es vielleicht an der Zeit, über eine Veränderung nachzudenken. Journalisten sollten offen für Kritik und sich über die Folgen ihres Handelns bewusst sein. Worte können entweder heilsam sein oder Schaden zufügen. Wer nur für Klicks schreibt, ohne die Auswirkungen zu bedenken, erweist den Menschen, deren Geschichten er erzählt, einen schlechten Dienst. Die Ausbildung ist hier von grundlegender Bedeutung, doch viele Journalismus-Schulen konzentrieren sich auf Schnelligkeit – sie zeigen, wie man schnell schreibt und redigiert oder eine mittreißende Radiostimme ausbildet Ironischerweise wird dabei oft vernachlässigt, wie Geschichten so erzählt werden können, dass sie weder einzelnen Personen noch ganzen Communitys schaden. Das Ziel sollten Geschichten sein, die diejenigen vermenschlichen, die oft marginalisiert und übersehen werden, indem man ihren Stimmen Glaubwürdigkeit und Macht gibt. Sich dieser Verantwortung bewusst zu sein, ist grundlegend für jeden Journalisten, der sich einer ethischen und wirkungsvollen Berichterstattung verschreibt.

Was gefällt Dir trotz aller Probleme in den Medien am Journalismus?

Journalismus kann das Gegenteil davon sein, Menschen Schaden zuzufügen. Oft drücken Menschen ihre Dankbarkeit aus, wenn ich Geschichten schreibe. Als ich zum Beispiel über ukrainische, vom Krieg betroffene Roma schrieb, interessierten sich die meisten Menschen nicht einmal für ihre Notlage. Über Rassismus zu schreiben und aufzeigen, wie er sich direkt auf die Leben auswirkt, damit stärke ich nicht nur diese Individuen, sondern zeige auch der Welt, dass das falsch ist. Die Kraft eines Interviews auf dem „heißen Stuhl“ besteht darin, die eigene Macht zurückzufordern. Als Romni spüre ich das besonders deutlich, wenn ich mich mit einem Premierminister zusammensetze und ihm knallharte Fragen stelle. Das Machtungleichgewicht in diesem Szenario sorgt für spannenden Journalismus.

Ich habe einmal einen sehr persönlichen Artikel geschrieben, in dem ich meine Familiengeschichte erforscht und einen Holocaust-Überlebenden aus Ungarn interviewt habe. Es war das erste Mal, dass er seine Geschichte vor seiner Tochter und seinem Enkelkind erzählte. Ich sprach mit mehreren Personen, die herausgefunden haben, dass ihre Großeltern Holocaust-Überlebende waren – ein Thema, das in unserer Community nur selten diskutiert wird. Diese Geschichte fand große Resonanz und wurde sogar vom Canadian Minister of Global Affairs retweetet. Im selben Jahr erkannte Kanada den Roma Holocaust formell an. Der Überlebende rief daraufhin seine Tochter an und sagte: „Sie haben es geschafft. Ich kann es nicht glauben.“ Auch wenn ich diese Anerkennung nicht ganz für mich beanspruchen möchte – meine Schwester hat hier unglaubliche Arbeit ge- leistet – so denke ich doch gerne, dass ich eine Rolle gespielt habe, indem ich dem Thema ein menschliches Gesicht gab.

Ich liebe Journalismus, weil es mein Job ist, die Geschichten von Menschen zu teilen und Macht in Frage zu stellen. Das ist eine wichtige Aufgabe. Ich glaube wirklich, dass Journalismus das Leben von Menschen auf bedeutsame Weise beeinflussen
kann.

Vielen Dank für das Interview!

Lela Savić ist eine Roma-Journalistin aus Serbien und lebt in Montreal. Sie ist Gründerin und Herausgeberin von La Converse, einem Onlinejournal, das marginalisierten Stimmen Gehör verschafft. Im Jahr 2024 hostete sie den Canadian Digital Publishing Award. Ihr Journal wurde für die Canadian Association of Journalists Awards und den Journalistic Impact Award bei den LION Awards in Chicago nominiert.

Das Interview ist in unserem Handbuch für diskriminierungskritischen Journalismus „Rom*nja in den Medien“ (2024) erschienen.