Offener Brief: NEIN zur Bezahlkarte

Gemeinsam mit rund 60 zivilgesellschaftlichen Organisationen, Vereinen und Initiativen haben wir in einem offenen Brief an den Regierenden Bürgermeister Wegner und die Integrationssenatorin Kiziltepe sowie an die Abgeordneten des Berliner Abgeordnetenhauses dazu aufgerufen, die Einführung des Abschreckungsinstruments Bezahlkarte in Berlin zu stoppen. Die Bezahlkarte ist entmündigend, diskriminierend und stigmatisierend. Die Menschenwürde darf für migrationspolitische Zwecke nicht relativiert werden.

Der Offene Brief und eine Liste der Unterzeichner*innen sind hier auf der Website des Flüchtlingsrat Berlin zu finden.

 


 

Berlin, 28.02.2024

Sehr geehrte Frau Senatorin Kiziltepe,

sehr geehrter Regierender Bürgermeister Wegner,

sehr geehrte Mitglieder des Berliner Abgeordnetenhauses,

mit der Einführung der Bezahlkarte für Bezieher*innen von Leistungen nach dem AsylbLG wird die Büchse der Pandora geöffnet – ein Instrument, das das Potenzial der absoluten Kontrolle, Überwachung und Restriktion bietet.

Wir, ein breites Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen, lehnen die Bezahlkarte strikt ab und fordern Berlin dazu auf, aus dem Vergabeverfahren auszusteigen.

Entmündigend

Die Bezahlkarte eröffnet die Möglichkeit, massiv in das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen einzugreifen. Es kann von außen reglementiert werden, welche Waren Menschen wo einkaufen können, ob und wieviel Bargeld sie abheben dürfen und Überweisungen ins In- und Ausland werden ihnen komplett untersagt.

Das wird den Alltag der Menschen enorm einschränken: Die Raten für den Rechtsbeistand, Geld für die Klassenfahrt oder die Möglichkeit, Dinge günstig auf dem Flohmarkt zu kaufen – all das wird für die Betroffenen nicht mehr möglich sein. Der Alltag von Geflüchteten mit Behinderung würde durch die Bezahlkarte im besonderen Maße beeinträchtigt werden und das Risiko einer gesundheitlichen Unterversorgung erhöhen – so können etwa der Fahrdienstleister oder auch die Kosten für Gebärden-Dolmetscherdienste nur per Überweisung bezahlt werden.

Verfassungswidrig

In Artikel 1 GG heißt es, die Würde des Menschen ist unantastbar. Empfänger*innen von Leistungen nach dem AsylbLG erhalten nicht nur Leistungen unterhalb des Existenzminimums (knapp 20% weniger als Bügergeldempfänger*innen). Mit der Bezahlkarte können sie über dieses wenige Geld noch nicht einmal frei entscheiden. Das dahinterstehende Ziel haben die Politiker*innen klar formuliert: Man will die Zahl der Asylsuchenden „deutlich und effektiv“ senken. Sozialleistungen werden somit als Abschreckungsinstrument missbraucht.

Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Urteil bereits 2012 festgestellt, dass die Menschenwürde nicht für migrationspolitische Zwecke relativiert werden darf. Aber genau das passiert gerade.

Diskriminierend

Asylsuchende werden einmal mehr als Menschen zweiter Klasse behandelt. Das Asylbewerberleistungsgesetz ist bereits zutiefst diskriminierend, da es u.a. besagt, dass es eine Gruppe von Menschen in Deutschland gibt, die scheinbar nicht würdig sind, das hier geltende Existenzminimum zu erhalten.

Mit der neuen Bezahlkarte werden diese Menschen noch weiter entrechtet. Kaum vorstellbar, welch ein Aufschrei durch die Gesellschaft ginge, wenn man gleiches mit deutschen Bürgergeldempfänger*innen machen würde.

Stigmatisierend

Asylsuchenden Menschen wird pauschal unterstellt, in erster Linie wegen monetärer Anreize nach Deutschland zu kommen. Dabei wurde in der Migrationsforschung und selbst durch den Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages längst festgestellt, dass wesentlich für die Wahl eines Ziellandes die familiären und sozialen Bindungen, Bildungs- und Arbeitsperspektiven sowie rechtsstaatliche Sicherheit einer demokratisch verfassten Gesellschaft sind. Menschen fliehen in erster Linie vor Krieg, Unterdrückung und humanitären Notlagen. Ökonomische Faktoren greifen für die Erklärung von Fluchtbewegungen viel zu kurz.

Dennoch wird Asylsuchenden vorgeworfen, das Sozialhilfesystem „auszunutzen“. Es wird behauptet, dass Menschen, die Asylbewerberleistungen beziehen, von diesem wenigen Geld auch noch etwas an ihre Familien im Herkunftsland überweisen. Wenn Menschen in einer Erstaufnahmeeinrichtung wohnen, wo anfangs alle leben müssen und manche auch für die gesamte Zeit ihres Aufenthalts in Deutschland, dann erhalten sie einen monatlichen Barbetrag von maximal 204 € pro erwachsene alleinstehende Person. Wenn es den Menschen durch äußerste Sparsamkeit gelingt, 20-30 € davon zur Seite zu legen, um damit ihre Familien in Afghanistan, Syrien, Eritrea oder sonst wo zu unterstützen, ist fraglich, was daran verwerflich sein soll und worin der Sozialhilfemissbrauch liegt.

Diese falschen Beschuldigungen sind populistisch und nähren Vorurteile und Ressentiments in der Gesellschaft gegenüber Geflüchteten.

Fehlannahmen

Das zynische Ziel der Bezahlkarte ist Abschreckung. Doch niemand lässt sich auf eine gefährliche und oft auch sehr kostspielige Flucht ein, nur weil er*sie in Deutschland Bargeld erhält. Im Umkehrschluss wird eine Bezahlkarte auch niemanden abschrecken. Es wird die Menschen nur noch mehr entrechten und diese scheibchenweise Entrechtung stärkt am Ende nur rechtspopulistische und rechtsextreme Gruppierungen und Parteien.

Was Menschen aus dem Ausland auf lange Sicht eher abschrecken wird, sind die rassistischen und migrationsfeindlichen Töne von immer mehr Politiker*innen. Doch davon werden auch die Fachkräfte abgeschreckt, die die deutsche Wirtschaft eigentlich so dringend hier haben möchte.

„Mindeststandards“

Noch ist unklar, wie die Karte in Berlin ausgestaltet sein wird und welche „Mindeststandards“ gelten. Klar ist jedoch, dass sie den Leistungsträgern die technischen Möglichkeiten bietet, die Handlungsfreiheit der Karteninhaber*innen massiv einzuschränken. Das heißt, es besteht die Möglichkeit, den Kauf bestimmter Waren und Dienstleistungen zu regulieren, die Bezahlfunktion örtlich zu beschränken, Überweisungen auszuschließen und die Karte jederzeit zu sperren.

Die Bezahlkarte erinnert an das diskriminierende Chipkartensystem, das der Berliner Senat 2003 aufgrund des massiven zivilgesellschaftlichen Protestes wieder abgeschafft und durch Bargeldzahlungen ersetzt hat.

Alternative

Bargeld allein ist sicher nicht das Nonplusultra. Es ist für alle Beteiligten von Vorteil, wenn das monatliche Schlangestehen für die Auszahlung der Leistungen vermieden wird und eine Wahlfreiheit zwischen digitaler und barer Bezahlung gegeben ist. Deshalb befürworten wir, dass allen asylsuchenden Menschen ab dem Zeitpunkt ihrer Registrierung ein kostenloses Bürgerkonto zur Verfügung gestellt wird.

Asylsuchende haben gemäß dem Zahlungskontengesetz einen Anspruch auf den Abschluss eines Basiskontovertrags. Solch ein Konto hat den Vorteil, dass AsylbLG-Empfänger*innen genauso wie alle anderen Menschen selbstbestimmt über ihr Geld entscheiden können UND dass Sozialbehörden entlastet werden, da sie die Leistungen einfach auf das Konto überweisen können.

Mit dieser Praxis hat Berlin bereits positive Erfahrungen gemacht. 2015 hat die Sparkasse zwei Kundencenter speziell für Geflüchtete eröffnet. Leider wurde dieses spezialisierte Beratungssystem eingestellt. Diese Praxis der Basiskontoeröffnung muss in Berlin wieder forciert werden, anstatt weiter dem humanitären wie rechtlichen Abwärtstrend zu folgen.

Berlin darf sich am Vergabeverfahren für die Bezahlkarte nicht beteiligen. Hier ist kein Platz für Stigmatisierung und Entrechtung geflüchteter Menschen!