Humanitäre und historische Verantwortung übernehmen: Keine Abschiebungen von Roma*, keine Abschiebungen nach Moldau. Moldau ist kein sicheres Herkunftsland!

12.06.2023

Wir sind Mituterzeichnerin des Gemeinsamen offenen Briefs des Flüchtlingsrats Berlin e.V. an Berlins Innensenatorin Spranger.  Die komplette Stellungnahme und eine Auflistung aller Unterzeichnenden sind auf der Website des Flüchtlingsrats Berlin e.V. zu finden.

Sehr geehrte Frau Senatorin Spranger,

wir wenden uns heute an Sie, weil wir die Abschiebepraxis des Landes Berlins – vor allem in die Republik Moldau und insbesondere von Roma* – nicht länger hinnehmen. Mit großer Sorge verfolgen wir zudem die Bestrebungen der Bundesregierung, Moldau zum sicheren Herkunftsstaat einzustufen.

Seit Ende des Winterabschiebestopps am 31.3.2023 erfolgen aus Berlin fast wöchentlich Sammelabschiebungen in die Republik Moldau, wobei das Vorgehen der Vollzugsbehörden immer vehementer und gewaltvoller wird. Häufig werden Charter mit Doppeldestination eingesetzt und neben Moldau auch Ziele in den Westbalkanstaaten angeflogen. Auch während des Wintermoratoriums wurden fast 50 Menschen von Berlin nach Moldau abgeschoben.

Familientrennungen und Abschiebung von schwer Kranken und Menschen mit Behinderung

Bei den Abschiebungen kommt es regelmäßig zu Trennungen von Familien. Auch Familien mit sehr kleinen Kindern und schwangere Frauen sind davon betroffen. Diesen schweren Eingriff in den Schutz der Familieneinheit und Missachtung des Kindeswohls beobachten wir in dieser Häufigkeit vor allem bei Abschiebungen in die Republik Moldau. Wir kritisieren dies scharf! Das Recht auf Familie und Schutz des Kindeswohls können nicht dadurch verwirkt werden, dass ein Elternteil ggf. straffällig geworden ist, sich zum Zeitpunkt der Abschiebung woanders aufhält oder einen anderen rechtlichen Status hat als der Rest der Familie.

Ebenso stellen wir fest, dass bei allen Sammelabschiebungen nach Moldau oder in die Westbalkanstaaten auch Erwachsene und Kinder abgeschoben werden, die an schweren Krankheiten leiden und/oder körperliche oder geistige Behinderungen haben, und die in ihren Herkunftsländern keinen ausreichenden Zugang zur Gesundheitsversorgung erhalten. Auch Frauen, die vor schwerster häuslicher Gewalt geflohen und traumatisiert sind, befinden sich regelmäßig unter den Abzuschiebenden.

Nach unserem Eindruck prüft das Landesamt für Einwanderung das Vorliegen humanitärer Gründe, die gegen eine Abschiebung sprechen könnten, nicht oder nur unzureichend.[1] Selbst bei Menschen mit schwersten Erkrankungen/Behinderungen wird lediglich die reine Reisetauglichkeit geprüft. Weil so viele schwer kranke Menschen abgeschoben werden, begleiten regelmäßig Ärzt:innen und Sanitäter:innen die Flüge.

Moldau ist kein sicheres Herkunftsland – vor allem nicht für Roma*

Die Republik Moldau, eines der wirtschaftlich ärmsten Länder Europas,[2] leidet massiv unter den Auswirkungen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine: Energie und Lebensmittelpreise sind explosionsartig gestiegen, sehr viele Geflüchtete aus der Ukraine müssen untergebracht und versorgt werden.[3] Die Situation für von Armut betroffene Menschen in Moldau hat sich durch die rapide gestiegene Inflation erheblich zugespitzt. Darüber hinaus sind Regierung und Gesellschaft in Moldau aktuell von Destabilisierungsversuchen seitens des russischen Regimes und seiner Anhänger*innen in Moldau und der Region Transnistrien betroffen. Russland hat Moldau mehrfach mit einer Invasion gedroht.[4]

Viele der aus Moldau und den Westbalkanstaaten nach Deutschland geflohenen Asylsuchenden sind Roma*. Es ist hinreichend bekannt, dass Roma* in der Republik Moldau ebenso wie in den Westbalkanstaaten teils schweren Diskriminierungen und seit Generationen bestehender Ausgrenzung in allen gesellschaftlichen Bereichen ausgesetzt sind. Die tradierte gesellschaftliche Schlechterstellung der Roma* und der tief verwurzelte Antiziganismus in der Republik Moldau fußen auch in der 500 Jahre andauernden Versklavung von Roma* in den ehemaligen Fürstentümern Moldau und Walachei – dem Gebiet der heutigen Republik. Der Handel und Besitz von Roma* wurde erst 1855 untersagt.[5]

Viele Roma* in Moldau leben in existenzbedrohender Armut. Häufig werden Personenstandsurkunden nicht ausgestellt. Hinzu kommen unzureichender Schutz vor häuslicher Gewalt, mangelnder Zugang zu Krankenversorgung, Sozialhilfeleistungen, Schulbildung, Rechtsschutz, Wohnraum und gesicherten Arbeitsverhältnissen.[6] Durch die Corona-Pandemie sowie aktuell durch den kriegsbedingten Wegfall Russlands und der Ukraine als Ziele temporärer Erwerbsmigration hat sich ihre Situation weiter massiv verschlechtert.

Doch die mehrfach dokumentierte strukturelle Diskriminierung der Roma* in Moldau und in den Westbalkanstaaten findet weder Eingang in asylrechtlicher Hinsicht noch in humanitäre Abwägungen seitens des Landes Berlin.

Europaweiter Genozid an Roma* zur Zeit der NS-Herrschaft

Im Nationalsozialismus wurden Roma* und Sinti* mit dem Ziel ihrer Auslöschung europaweit verfolgt und systematisch ermordet. Sie waren ebenso wie die jüdische Bevölkerung Opfer eines Genozids, was die Bundesregierung jedoch erst 1982 formal anerkannte.[7]

Deutschland hat gegenüber den Überlebenden und Nachfahren der Opfer des nationalsozialistischen Völkermordes an den europäischen Sinti* und Roma* eine besondere Verantwortung – auch gegenüber jenen, die aus ihren Herkunftsländern nach Deutschland fliehen!

Doch Berlin entledigt sich ihrer durch Abschiebung, statt ihnen Schutz, Entschädigung und Anerkennung für das zugefügte Leid in der Vergangenheit zu bieten. Der über Generationen andauernde Re-Traumatisierungsprozess der Nachfahrern der Opfer nationalsozialistischer Vernichtungsstrategien des 20. Jahrhunderts als auch derer, die aufgrund ihrer Roma*-Identität bis in das 19. Jahrhundert versklavt wurden, setzt sich dadurch bis in die Gegenwart fort.

Wir schließen uns der Unabhängigen Kommission Antiziganismus an, die in ihrem im Juli 2021 veröffentlichten Abschlussbericht schreibt:

„Mit Blick auf die praktische Anwendung der Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes ist klarzustellen, dass die in Deutschland lebenden Rom_nja aus historischen und humanitären Gründen als eine besonders schutzwürdige Gruppe anzuerkennen sind. Landesregierungen und Ausländerbehörden sind aufgefordert, die Praxis der Abschiebung von Rom_nja sofort zu beenden.“ [8]

Wir fordern einen Paradigmenwechsel in der Abschiebepolitik Berlins:

  • Abschiebungen nach Moldau sind aufgrund der akut bedrohlichen Situation in dem Land in Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine generell auszusetzen.
  • Abschiebungen von Roma* sind sofort zu beenden. Berlin muss alle landesrechtlichen Spielräume nutzen, um Roma* aus Drittstaaten ein humanitäres Bleiberecht zu gewähren.
  • Berlin muss sich beim Bund für eine bundesweite Bleiberechtsregelung einsetzen, die der historischen Verantwortung Deutschlands gegenüber Roma* Rechnung trägt.
  • Berlin muss sich auf allen Ebenen für die Bekämpfung des Antiziganismus gegenüber nach Berlin geflüchteten Roma* einsetzen. Das bedeutet auch, Diskriminierung bei der Schulplatzvergabe entschieden entgegenzuwirken. Es darf nicht sein, dass Kinder auf Grund stereotypisierender Zuschreibungen und einer vermeintlich schlechten Bleibeperspektive beim Zugang zu Bildung benachteiligt werden.
  • Berlin muss sich im Bund gegen eine Einstufung der Republik Moldau als sicheren Herkunftsstaat und gegen Asylschnellverfahren für Antragstellende aus Moldau einsetzen. Für Roma* ist Moldau kein sicheres Land. Darüber hinaus muss die menschenrechtlich nicht haltbare Einstufung von Serbien, Nordmazedonien, Bosnien-Herzegowina, Albanien, Montenegro und dem Kosovo als „sichere Herkunftsstaaten“ zurückgenommen werden.
  • Familientrennungen bei Abschiebungen sind aus menschenrechtlicher Sicht ausnahmslos zu vermeiden. Sie verstoßen gegen das Grundrecht auf Ehe und Familie und die UN-Kinderrechtskonvention.
  • Bei Hinweisen auf Erkrankungen und Behinderungen ist von Abschiebungen abzusehen, wenn im Herkunftsland/Zielland der Abschiebung die gesundheitliche Versorgung nicht gewährleistet ist. Die UN-Behindertenrechtskonvention ist zu beachten. Humanität und Menschenrechte müssen Vorrang haben vor behördlichen Vollzugsinteressen. Das LEA muss Betroffene zu den Anforderungen an ärztliche Nachweise proaktiv beraten, für deren Einholung ausreichend Zeit einräumen und Hinweisen auf Erkrankungen, die einer Abschiebung entgegenstehen, selbst nachgehen.
    Die asyl- und ausländerrechtlich geforderten Atteste kann nur vorlegen, wer auch Zugang zu medizinischer Versorgung in Berlin hat. Die seit Herbst 2021 bestehende Praxis der bis zu sechs Monate verzögerten Ausstellung der Gesundheitskarte als Nachweis der Behandlungsberechtigung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ist rechtlich und humanitär unhaltbar. Der Berliner Senat muss den unverzüglichen Zugang für alle Asylsuchenden in Berlin zu ärztlicher Versorgung sicherstellen.

Sehr geehrte Frau Spranger, wir appellieren an Sie: Bitte setzen Sie sich in Berlin wie auch bei der bevorstehenden Innenminister*innen-Konferenz für einen Richtungswechsel ein, hin zu einer auf Bleiberecht und Entschädigung ausgerichteten Politik gegenüber in Deutschland schutzsuchenden Roma*.