Antiziganismus
Antiziganismus ist eine spezifische Form von Rassismus gegen Menschen mit selbst- oder fremdzugeschriebenem Roma-Hintergrund. Dieser Rassismus hat erst mal nichts mit der tatsächlichen Zugehörigkeit zur Minderheit zu tun, sondern ist eine Projektion der Mehrheitsgesellschaft. In den europäischen Mehrheitsgesellschaften ist Antiziganismus weit verbreitet und tief in sozialen und kulturellen Normen und institutionellen Praktiken verwurzelt. Anders als bei anderen Formen von Rassismus ist seine gesellschaftliche Akzeptanz hoch und so kommt es meist auch zu keiner moralischen Verurteilung. Häufig wird vielmehr den Betroffenen selbst die Schuld zugewiesen, wenn etwa gefordert wird, Rom*nja müssten endlich integriert werden. Gesellschaftliche Teilhabe und die Überwindung von Ausgrenzung sind selbstverständlich wichtig – damit kann aber Antiziganismus nicht bekämpft werden, denn dafür muss die Mehrheitsgesellschaft im Fokus stehen, nicht die Betroffenen.
Amaro Foro orientiert sich an der Arbeitsdefinition der Allianz gegen Antiziganismus:
Antiziganismus ist ein historisch hergestellter stabiler Komplex eines gesellschaftlich etablierten Rassismus gegenüber sozialen Gruppen, die mit dem Stigma „Zigeuner“ oder anderen verwandten Bezeichnungen identifiziert werden. Er umfasst:
- eine homogenisierende und essenzialisierende Wahrnehmung und Darstellung dieser Gruppen;
- die Zuschreibung spezifischer Eigenschaften an diese;
- vor diesem Hintergrund entstehende diskriminierende soziale Strukturen und gewalttätige Praxen, die herabsetzend und ausschließend wirken und strukturelle Ungleichheit reproduzieren.[1]
Diese Definition unterstreicht vor allem die diskurstheoretische Perspektive, betont also, dass es sich bei Antiziganismus um ein Konstrukt der Mehrheitsgesellschaft handelt. Nach Stuart Hall hat Rassismus außerdem immer eine materielle Grundlage in dem Sinne, dass er als Legitimation dient, um „bestimmte Gruppen vom Zugang zu materiellen und symbolischen Ressourcen aus(zu)schließen und dadurch der ausschließenden Gruppe einen privilegierten Zugang (zu) sichern“.[2] Dies ist die gesellschaftliche Funktion von Rassismus. Der Prozess funktioniert als eine Art Teufelskreis: Er legitimiert in vielen Fällen bereits bestehende soziale Ungleichheiten und naturalisiert sie dadurch, dass er sie als Konsequenzen des Verhaltens einer Gruppe darstellt. Gleichzeitig werden soziale Ungleichheiten dadurch fest- und fortgeschrieben.
Wie jede Form von Rassismus hat Antiziganismus auch für das Individuum eine Funktion: Dadurch, dass eine Gruppe durch Othering zu „Fremden“ bzw. „Anderen“ gemacht wird, wird ihren Mitgliedern die gleichberechtigte Zugehörigkeit zur eigenen Gesellschaft abgesprochen. Das Individuum kann gesellschaftlich unerwünschte Eigenschaften oder Regungen auf diese Gruppe projizieren und so ein gesellschaftlich akzeptiertes Ventil für Aggressionen finden. Dieser klassische Sündenbock-Mechanismus hat beim Antiziganismus jedoch eine erweiterte Funktion: Durch die Zuschreibung unerwünschter Eigenschaften auf eine Gruppe, die als nicht zugehörig markiert wird, wird ganz entscheidend die Findung einer eigenen Identität ermöglicht – in der Abgrenzung der eigenen von der als fremd markierten Gruppe.
Heute wird Rassismus normalerweise nicht mehr biologisch begründet, sondern kulturalisierend, wenn also die Kultur einer bestimmten Gruppe als Begründung für ihre gesellschaftliche Benachteiligung angeführt wird.
Was sind die klassischen antiziganistischen Stereotype?
- Identitätslosigkeit: Rom*nja und dafür gehaltenen Menschen wird unterstellt, sie seien nicht in einem Heimatland oder einer Nation verwurzelt. Damit fehlt ihnen (angeblich) eines der wichtigsten Elemente, die eine bürgerliche Identität ausmachen: die Verwurzelung in einer Heimat. Dazu passt es, dass sich das Stereotyp des Nomadentums hartnäckig hält, obwohl über 90 Prozent der europäischen Rom*nja heute sesshaft sind.
- Leben auf Kosten anderer: Besonders seit dem Aufkommen der modernen Industriegesellschaften und der protestantischen Arbeitsmoral wird Arbeit zu einem wichtigen gesellschaftlichen Wert. Individuen müssen demzufolge etwas leisten, wenn sie dazugehören wollen. Rom*nja oder dafür gehaltenen Menschen wird also unterstellt, keiner produktiven Arbeit nachzugehen bzw. auf Kosten anderer zu leben – sei es durch ein Leben als Schausteller, Musiker und Wahrsager oder durch Phänomene wie Kriminalität, Bettelei und Sozialbetrug.
- Niedrigerer Zivilisationsgrad: Dieses Stereotyp wurde vor allem im Zuge der europäischen Aufklärung wichtig. Während die Vernunft zum höchsten Ideal erhoben wurde, wurde Rom*nja und dafür gehaltenen Menschen unterstellt, auf der Entwicklungsstufe der „Natur“ (im Gegensatz zur Zivilisation) zu verharren. Während der Romantik wurde dieser vermeintliche Wesenszug teilweise positiv bewertet – das ändert aber nichts an der unterstellten fundamentalen Andersartigkeit. In heutigen Mediendebatten finden sich immer noch häufig Bilder und Berichte, die unterstellen, Rom*nja und dafür gehaltene Menschen seien in moderne Gesellschaften wegen ihrer „Rückständigkeit“ nicht integrierbar.
- Fehlende Disziplin und Moral: Rom*nja und dafür gehaltenen Menschen wird unterstellt, sie würden wie Kinder impulsiv in den Tag hineinleben und keinen Gedanken an die Zukunft verwenden, sie könnten nicht planen und würden gesellschaftliche Normen nicht einhalten.
Diese Stereotype hängen eng zusammen und verstärken sich gegenseitig. Zusammengenommen ergeben sie einen Gegenentwurf zu sämtlichen gesellschaftlichen Normen und Werten. Für heutige Mediendebatten fungieren sie als zugrunde liegende Folie, die tief im kollektiven Gedächtnis der Mehrheitsgesellschaft verankert ist. Wenn in den letzten Jahren von angeblichem „Asylmissbrauch“ und „Sozialtourismus“ die Rede war, waren in der Regel Rom*nja gemeint. Vermutlich würde man von einer anderen Gruppe nicht so schnell und so bereitwillig glauben, dass sie einfach ihre Heimat verlässt, nur weil es woanders höhere Sozialleistungen gibt.
Solche medialen Debatten führen dann häufig zu entsprechenden gesetzlichen Einschränkungen und Repressionen, die eine grundlegende Entrechtung von Rom*nja und dafür gehaltenen Menschen bewirken. Damit funktioniert das antiziganistische Stereotyp gleichzeitig auch als Disziplinierung der Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft, denen vor Augen geführt wird, was ihnen droht, wenn sie den gesellschaftlichen Normen nicht gerecht werden.
All diese Stereotype können auch positiv bewertet werden, was aber nichts daran ändert, dass es Stereotype sind. Dies spiegelt sich auch heute noch in vielen Roma-Integrationsprojekten wider, die beispielsweise davon ausgehen, dass „man mit Roma ganz anders arbeiten muss, weil sie so anders sind“. Auch hinter Paternalismus stecken häufig antiziganistische Vorurteile. Häufig ist gar keine böse Absicht vorhanden, sondern den Akteuren ist gar nicht bewusst, dass es ein Stereotyp ist, was sie im Kopf haben, weil der Sensibilisierungsgrad so gering ist.
Dass Antiziganismus in der deutschen Mehrheitsgesellschaft weit verbreitet ist, bestätigt auch die Leipziger Autoritarismusstudie (veröffentlicht am 7.11.): Der Aussage „Sinti und Roma sollten aus den Innenstädten verbannt werden“ stimmten 49,2 Prozent zu; bei der Aussage „Sinti und Roma neigen zur Kriminalität“ sind es sogar 60,4 Prozent Zustimmung; 56 Prozent wollen Sinti und Roma nicht in ihrer Nähe haben. Die Zustimmung zu diesen Aussagen ist dabei seit Jahren konstant hoch und zum Teil noch gestiegen.[1]
Eine erhebliche Verantwortung für das Erstarken rassistischer Ressentiments tragen dabei Politiker*innen nicht nur der CSU, die in den letzten Jahren Hetzkampagnen gegen eine angebliche „Einwanderung in die Sozialsysteme“ betrieben. Auch in der SPD ist Antiziganismus fest verankert: „Wir haben derzeit rund 19.000 Menschen aus Rumänien und Bulgarien in Duisburg, Sinti*zze und Rom*nja. Ich muss mich hier mit Menschen beschäftigen, die ganze Straßenzüge vermüllen und das Rattenproblem verschärfen“, erklärte Sören Link (SPD), der Oberbürgermeister von Duisburg, im August.
[1]Antiziganismus: Grundlagenpapier, Version Juni 2017, hg. v. d. Allianz gegen Antiziganismus, www.antigypsyism.eu
[2]Rommelspacher, Birgit: Was ist eigentlich Rassismus?; in: Melter, Claus und Mecheril, Paul (Hg.): Rassismuskritik, 2011, S. 25.